17 August 2007

Demütigung, Rache und Verzeihung

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Demütigung, Rache und Verzeihung
Prof.Dr.Dr. Leon Wurmser
Seminar H17, 18. – 22. April 2005, im Rahmen der
55. Lindauer Psychotherapiewochen 2005 (www.Lptw.de)
1. Seminartag:
Zur Dynamik der Versöhnlichkeit und dem Problem des tragischen
Charakters
Rache, Ressentiment und Verzeihung


In jeder mitmenschlichen Beziehung kommt es immer wieder zu einer
bestimmten Abfolge von äußeren Ereignissen und sie begleitenden inneren
Vorgängen: Wir fühlen uns ungerecht behandelt, nicht erkannt und gewürdigt in
dem, was wir eigentlich meinten, beschämt für etwas, was wir in guten Treuen
angeboten und geschenkt haben, abgewiesen und genarrt in dem Vertrauen, das
wir dem anderen gewährt haben. Das Gefühl der Demütigung kann dabei ganz
überwältigend werden. Zumindest fühlen wir tiefen Schmerz und starke Trauer
über das, was wir als einen Bruch in der Beziehung, als eine Art Verrat, erleben
müssen. Können wir uns selber gegenüber offen und ehrlich sein, verbirgt sich
hinter dieser Trauer zugleich auch Groll und Zorn; und ist die Beschämung nur
tief genug, meldet sich bald auch die Rachgier, die Rachelust, die Rachsucht ––
wie die Worte es sagen: ein süchtig machendes Begehren auf
Wiedergutmachung, und solcher “redress”, eine solche “Vergeltung”, ist
anscheinend nur möglich, wenn dem anderen das gleiche Unrecht angetan wird,
nein, wenn es ihm vielfach zurückbezahlt wird. Ihm steht das Grundgebot des
Alten Testamentes, der Thora, entgegen (Lev. 19.18): “Nimm nicht Rache und
hege keinen Groll gegen die Kinder deiner Gemeinschaft, und liebe deinen
Nächsten wie dich selbst” –– die Forderung danach, den anderen wie sich selbst
zu achten und anzunehmen und zu ergründen. Unmittelbar davor heißt es:
“Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen. Weise deinen Nächsten zwar
zurecht, aber nimm seinetwegen keine Schuld auf dich.” Dieser letzte Gedanke
wird von Raschi, dem großen Kommentator des Mittelalters, so gedeutet:
“Beschäme ihn nicht in der Öffentlichkeit” (wörtlich: “laß sein Gesicht nicht vor
den vielen erblassen”). Das heißt: Die Beraubung der Würde und Ehre des
Mitmenschen ist eine ganz große Sünde. Korrigiere deinen Mitmenschen, aber
beschäme ihn nicht. Sei ehrlich, aber achte ihn und schütze sein
Selbstwertgefühl!
Den Unterschied zwischen Rache (neqima) und Ressentiment (netira) erklärt
Raschi in einem schönen Gleichnis: “Sagt der eine dem anderen: ‘Leih mir deine
Sichel aus!’ und dieser sagt: ’Nein!’ Am Tag darauf bittet dieser den ersteren:..........weiterlesen, insgesamt 64 Seiten.