19 Oktober 2007

Schwangerschaftsabbruch

Talmudischer Beleg (Gemara) für das Anliegen der Rabbinen, tiefere Kenntnisse über die Vorgänge im Mutterleib zu erlangen (Nid:


"Schwangerschaftsabbruch Die Gesundheit und das Wohlergehen der Mutter während der Geburt haben Priorität vor dem ungeborenen Leben. Eine Schwangerschaft, die in sich „normal“ verlaufen ist, kann nach jüdischem Recht abgebrochen werden, wenn das Leben der Mutter auf dem Spiel steht. M Oh 7,6 (vgl.bT Sanh 72b): „Wenn eine Frau schwer gebiert [und dadurch in Lebensgefahr schwebt], zerschneidet man das Kind im Mutterleib und holt es stückweise heraus, weil das Leben der Mutter dem des Kindes vorangeht. Ist aber der größte Teil schon herausgekommen, darf man es nicht mehr verletzen, denn man darf nicht ein Leben für ein anderes hinopfern.“ Die biblische Grundlage der Diskussion um die Abtreibung ist Ex 21,22: „Wenn Männer streiten und eine schwangere Frau verletzen, sodass ihre Frucht abgeht, aber ihr kein Unheil geschieht, so wird er mit einer Geldbuße belegt, wie der Ehemann es errechnet; es komme vor die Richter. Aber wenn ein Unheil geschieht, dann sollst du Leben um Leben geben [nefesch tachat nefesch].“ Embryo und Fetus werden im Talmud und rabbinischen Schrifttum nicht als eigenständige Person (hebr. nefesch = Seele), sondern vielmehr als körperlicher Bestandteil der Mutter angesehen (Quellenangaben in Rosner 1968, 267, Anm. 6; 7).

Demzufolge gilt eine Abtreibung nicht als Mord und wurde daher zu keiner Zeit kriminalisiert. – Nach jüdischer Rechtsprechung basiert der Sachverhalt des Mordes auf Ex 21,12: „Wer jemanden schlägt, dass er stirbt...“; im hebräischen Text steht isch (= Mann), was von den Rabbinen dahingehend gedeutet wird, dass hier nefesch gemeint ist, und kein Fetus.

Vgl. bT Sanh 84b: „Es heißt [Ex 21,15]: ‚Wer einen Menschen [isch] schlägt, dass er stirbt, soll getötet werden’, ferner heißt es [Num 35,21]: ‚oder ihn aus Feindschaft mit der Hand geschlagen hat, dass er starb’. Hieraus ist zu entnehmen, dass unter ‚schlagen’ schlechthin nicht das Töten zu verstehen sei. Und sowohl [Ex 21,15] ‚wer einen Menschen schlägt’, als auch [Num 35,30] ‚wer eine Seele schlägt’, ist nötig. Würde der Allbarmherzige nur geschrieben haben: ‚wer einen Menschen schlägt...’, so könnte man glauben, nur einen [erwachsenen] Menschen, der den Geboten unterworfen ist, nicht aber einen Minderjährigen. Daher schrieb der Allbarmherzige auch: ‚wer eine Seele schlägt...’. Und würde der Allbarmherzige nur geschrieben haben: ‚wer eine Seele schlägt...’, so könnte man glauben, auch Fehlgeburten von acht Monaten. Daher sind [beide Schriftverse] nötig.“

Die meisten Fälle von erlaubtem Schwangerschaftsabbruch werden am Beginn der Schwangerschaft vorgenommen. Aufgrund talmudischer Aussagen ist dies möglich bei Fragen der seelischen Gesundheit, nach Vergewaltigung, bei einer reumütigen Ehebrecherin sowie bei einigen Krankheiten (vgl. z.B. Feldman 1968, 284-294; Jakobovits 1959, 170-191).

„Spätere rabbinische Entscheidungen erörtern die Fälle, in denen die Gesundheit der Mutter gerettet werden muss. Einige schlossen die Sorge um ihre psychische Gesundheit ein, z.B. in Fällen, in denen diese durch die Schwierigkeit der Schwangerschaft oder die Belastung durch ein zusätzliches Kind beeinträchtigt werden könnte. Bei anderen ist auch die Verzweiflung der Mutter über ein Kind, das sehr wahrscheinlich mit körperlichen Deformationen geboren wird oder geisteskrank ist, ein Grund für eine Abtreibung.

Im progressiven Judentum gibt es keine definitiven Bestimmungen über die Abtreibung. Es herrscht jedoch die starke Tendenz, den liberalen Standpunkten innerhalb der jüdischen Tradition den Vorzug zu geben. Die Abtreibung wird erlaubt, wenn es möglich ist, sie legal und sicher durchzuführen. Das Recht einer erwachsenen Frau, Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen und die Herrschaft über ihren eigenen Körper auszuüben sind weitere Gesichtspunkte.

Einige Rabbiner erweitern das Prinzip der psychischen Belastung und halten die Abtreibung für erlaubt, wenn die Frau schwerwiegende emotionale Vorbehalte gegen das Kind hat. Im Falle eines unerwünschten Kindes, das ungeliebt, vernachlässigt, vielleicht sogar missbraucht werden würde, muss die Qualität seines Lebens berücksichtigt werden“

(Romain 1999, S. 255; Hervorhebung R.H.).

Als Verhütungsmittel post festum wird die Abtreibung aus ethischen Gründen – potentiell eigenständiges Leben wird zerstört – verworfen (vgl. Rosner 1968, 260ff; Siegel 1975, 288f).

Merke: Bei Fragen der Verhütung und des Schwangerschaftsabbruchs stehen das Wohl und die Würde der Frau und ihre Beziehungsfähigkeit zum ungeborenen Kind im Mittelpunkt.

Zusammenfassend und zur Frage der Forschung an Embryonen sei hier aus dem Gutachten von Nordmann und Birnbaum zitiert:

„Bis zur Geburt wird der Embryo, beziehungsweise der Fötus, als Teil der Mutter und nicht als eigenständige Person angesehen, weshalb das Leben der schwangeren Frau, falls es in Gefahr ist, immer Priorität vor dem Leben des ungeborenen Kindes besitzt. Der Fötus erlangt gemäß Talmud erst dann den Personenstatus und damit gleiche Rechte wie die Mutter, wenn während der Geburt der größere Teil von ihm geboren ist.

Von besonderer Bedeutung für die Frage nach dem Status des Präembryos ist die Tatsache, dass der Embryo bis zum vierzigsten Tag nach der Befruchtung in mehreren Talmudstellen (u.a. Nidda 30b) einen geringeren halachischen Status zugesprochen erhält als nach Ablauf dieser Frist. Dies kann in der Praxis durchaus von Bedeutung sein. Einige Rabbiner vertreten nämlich die Auffassung, dass eine Abtreibung [...] am besten in den ersten 40 Tagen nach der Befruchtung erfolgen soll. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Halacha den Embryo im Mutterleib grundsätzlich vom Zeitpunkt der Befruchtung an als ‚potentielle Person’ und somit als schützenswert betrachtet. Das ungeborene Leben zu opfern, weil das Leben eines Dritten in Gefahr ist, wie dies zum Zwecke der embryonalen Stammzellenforschung nötig wäre, ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich nicht vertretbar.

Nun besitzt aber der Präembryo vor der Implantation in den Uterus, wie er nach künstlichen Befruchtungen entsteht, gemäß verschiedenen rabbinischen Autoritäten, wie dem ehemaligen sefardischen Oberrabbiner Israels, Mordechai Elijahu, oder dem aschkenasischen Oberrabbiner von Tel Aviv, Chaim David Halevi, einen Sonderstatus, da er sich einerseits außerhalb des Mutterleibs befindet und dort sowieso nicht lebensfähig ist und er sich andererseits auch eindeutig weniger als 40 Tage entwickelt hat. Kann ein solcher Präembryo nicht weiter verwendet werden, so kann gemäß diesen Autoritäten eine Zerstörung halachisch zulässig sein.

In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist auch eine Entscheidung von Rav Elijashiv, einem anerkannten Entscheidungsträger. Rav Elijashiv hat nämlich in Einzelfällen prädisponierter Familien ein so genanntes Präimplantations-Screening zur Verhinderung genetischer Krankheiten und die anschließende Zerstörung von betroffenen befruchteten Eizellen erlaubt.

Folgt man der Argumentationslinie, wonach der Präembryo außerhalb des Mutterleibs einen Sonderstatus besitzt und nicht geschützt werden muss, falls eine Implantation in die Mutter nicht mehr möglich ist, dann wäre es aus halachischer Sicht sicherlich besser, am Präembryo zu forschen und dadurch potentiell lebensrettenden Nutzen zu gewinnen, als ihn zu zerstören.“

(Nordmann/ Birnbaum 2002, S. 22f; Hervorhebungen RH).




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