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Lernen als Mittelpunkt von Schawuot
Von René Bloch
Generalisierungen sind zwar selten opportun, aber diejenige, dass der babylonische Talmud zu einer spannenderen, intensiveren und anspruchsvolleren Lektüre als der «Jeruschalmi» einlädt, ist schwerlich von der Hand zu weisen. Der «Babli» zeichnet sich im Vergleich mit seinem «Jerusalemer» Pendant unter anderem durch einen viel stärkeren Hang zum dialektischen Argumentieren aus. Mittels Gegenstimmen, die das Vorgetragene torpedieren und dann selbst wieder in Frage gestellt werden, will man sich, nicht unähnlich den Platon-Dialogen, der «Wahrheit» annähern. Diese stärkere Betonung der Dialektik ist Teil einer ganzen Reihe von Veränderungen, die wohl auf eine neue babylonische Lernkultur im fünften und sechsten Jahrhundert d. Z. zurückgeht. In der Übergangszeit von den Amoraim zu den sogenannten «Stammaim» (den «Anonymen»,ein Teil der Forschung sieht in diesen die Redaktoren des «Babli») haben sich zum ersten Mal grössere Akademien gebildet, welche die kleineren Lerngruppen unter der Leitung eines Lehrers ablösten. Mit dieser Veränderung einher ging indes nicht nur eine stärkere Tendenz hin zur dialektischen Diskussion, zur Lösung durch Widerspruch (im Gegensatz zum eher staccatoartigen und legalistischeren Ton der amoraischen Tradition), sondern auch zu einer verstärkten Kompetitivität und Aggressivität.
Der häufig kompromisslose Imperativ zum Lernen ist vor allem ein Charakteristikum des «Babli». Denn dort wird die Zentralität des Lernens gelegentlich ad extremum geführt: Lernen ist so wesentlich, dass es unser ganzes Wesen ausmacht. Das Studium der Thora, so der «Babli», ist wichtiger als das Retten von Leben, als der Wiederaufbau des Tempels, ja als die Ehrung von Vater und Mutter (bMeg 16b). Dieses Denken ist Teil einer Welt, die fast nur für die Thora bestimmt ist. Die ganze Welt, Himmel und Erde, existieren, so heisst es an einer Stelle, nur für die Thora (bPes 68b). Hier spricht das neue akademische Denken des «Babli», dasjenige der neuen «Universitäten» eben, das im Übrigen das individuelle Lernen im Gegensatz zum Thora-Studium in der Gruppe explizit kritisiert, ja es sogar als sündhaft erklärt. Die messerscharfe, ja pfefferscharfe dialektische Diskussion – der «Babli» leitet die Etymologie des «pilpul», des dialektischen Argumentierens, von «pilpel» («Pfeffer») ab – in grösseren Lerngruppen konnte sie aber offenbar auch zu Aggressionen unter den Gelehrten Babyloniens führen. Des Öfteren stösst der «Babli»-Leser auf Passagen, in denen Gelehrte einander drohen, auch physisch. Der «Babli» bestätigt diese Tendenz selbst: «Dreierlei hassen einander: Hunde, Geflügel und persische Priester. Manche sagen: Prostituierte. Und manche sagen, die Gelehrten Babyloniens (bPes 113b). Und an einer anderen Stelle im «Babli» lesen wir gar, dass sich «in Babylonien die Gelehrten in halachischen Debatten gegenseitig schaden» (bSanh 24a).
Tatsächlich werden die Diskussionen im «Babli» in teilweise martialischer Sprache geführt. Dass man für Debatten auf ein Kriegsvokabular zurückgreift, ist so ungewöhnlich nicht. Beispiele aus der griechisch-römischen, aber auch der modernen Rhetorik sind schnell zur Hand. Man wappnet sich für Wortgefechte, und auch das deutsche Wort «debattieren» weist gleich selbst auf den Schlagabtausch hin, der ihm inhärent ist. Und doch ist es erstaunlich, mit welcher Vehemenz im Babli nicht nur diskutiert, sondern dieses Diskutieren auch thematisiert wird. Sogar von «Kriegen der Thora» ist im Zusammenhang mit dem Debattieren im Rahmen des Thora-Studiums die Rede (bSanh 93b). Zum einen ist hier die Unmittelbarkeit der mündlichen Kultur spürbar, in der man schärfer «austeilt» als schriftlich. Hauptgrund für diese rhetorische Gewalt ist, gemäss dem New Yorker Judaisten Jeffrey Rubenstein, aber die neue Lernrealität der spätantiken jüdischen Akademie, in der in einer relativ stark hierarchisch organisierten Ordnung «heftiger» gelernt wurde – mitunter bis zum Exzess und bis zu Gewaltanwendungen bzw. der Androhung von solchen: «Ich würde deine Füsse mit einer eisernen Säge absägen» (bBQ 81b) ist ein solches Beispiel.
Agonale Lernkultur
Das in der Zeit der «Stammaim» intensivierte Lernklima konnte sich also sozusagen selbst vergiften. Dass man als Gelehrter – jetzt in einem beträchtlich grösseren Lernkreis als in amoraischer Zeit – rhetorisch beschämt würde, war, schreibt Rubenstein, ein stetiges Risiko: Weit öfter als in Parallelgeschichten im «Jeruschalmi» hört man im «Babli» von rhetorischen Erniedrigungen, mitunter wegen fehlendem Wissen der Gelehrten. Der Druck in diesem Lernklima muss hoch gewesen sein. Rabbi Shimon ben Halaphta soll beim Abschied gesagt haben: «Möge es Gottes Wille sein, dass du nicht beschämt wirst, noch jemanden beschämst» (bMQ 9b).
Zu dieser neuen Lernkultur passt, dass im «Babli» mehrfach eine explizite Verachtung von Juden, die keine Gelehrten sind (die «amei haarez»), spürbar ist. Die neue Akademie ist elitär. Insofern ist die kurze Geschichte über Rabbi Jehuda Hanassi, der das Lehren in der Öffentlichkeit verbot, symptomatisch – wenn auch insgesamt für den Talmud, der das Lernen für alle propagiert, untypisch: «Rabbi [Jehuda Nanassi] ordnete einst an, die Schüler nicht auf offener Strasse zu unterrichten. Er legte nämlich folgenden Schriftvers aus: ‹Die Wölbungen deiner Hüften sind wie Halsgeschmeide› (Hohelied 7,2); wie die Hüfte verborgen ist, ebenso sollen auch die Worte der Thora im Verborgenen sein» (bMQ 16a-b).
Mit dieser agonalen Lernkultur ging eine unbändige Lust am Lernen einher. Wie aber würde diese Lust mit den familiären Pflichten in Einklang zu bringen sein? Die Frage beschäftigt beide Talmude. Die Geschichte von der Frau Rabbi Akiwas, die für die langjährigen Lern-Abwesenheiten ihres Mannes, der dafür Tausende von Schülern nach Hause bringt, grenzenloses Verständnis zeigt, ist eben nur das: eine Geschichte, eine Wunschgeschichte. Viel eher spiegelt die Realität die Geschichte jenes Gelehrten wider, der bei seiner Rückkehr aus der Welt des Lernens die Strassen seines Wohnortes, ja nicht einmal seine eigene Tochter wiedererkennt. Als seine Frau, die traurig sitzend auf ihn wartet, ihren Mann erblickt, freut sie sich – und stirbt. «War es das wert?» fragt der Talmud. Das Dilemma zwischen Thora-Studium und Familie stellt sich im «Babli» wie auch im «Jeruschalmi». Aber der «Babli» ist schneller bereit, sich zugunsten des Buches zu entscheiden und in der persönlichen Prioritätenordnung das Studium vor die Liebe zur Ehefrau zu setzen. In dieser neuen Welt der babylonischen Akademie fanden die Gelehrten eine Befriedigung, welche die sexuelle, sich aus dem ehelichen Beischlaf ergebende ersetzen konnte. Lernen konnte als primäres Lusterlebnis, die Thora als Eheersatz gedeutet werden. Und entsprechend konnte das Verlassen der Thora gleichsam als Ehebruch interpretiert werden. Mit der Thora kann man, längst nicht nur an Schawuot, die Nacht verbringen. Drastisch ist diese Parallele zwischen der sexuellen Lust und derjenigen am Thora-Studium an folgender Stelle im «Babli» ausgeschrieben: «R. Schmuel b. Nahmani sagte: Es heisst ‹die liebliche Hirschkuh und die anmutige Gazelle› (Sprüche 5,19). Weshalb werden die Worte der Thora mit einer Hirschkuh verglichen? Wie die Hirschkuh einen engen Muttermund hat und daher ihrem Männchen jederzeit lieb ist wie in der ersten Stunde, ebenso sind die Worte der Thora den sie Studierenden jederzeit lieb, wie in der ersten Stunde» (bEruv 54b). Später, in der kabbalistischen Mystik, wurde die Thora noch expliziter als «Beischläferin» des Lernenden interpretiert. Bei Elija de Vidas (16. Jh.) wird das Studium der Thora gar explizit als «spiritueller Beischlaf» («zivug ruhani») bezeichnet.
Entwicklung neuer Lernkultur
Jeffrey L. Rubenstein hat ein wichtiges Buch geschrieben, auch wenn er gelegentlich überzeichnet und dadurch einigen Talmudstellen vielleicht zu viel Gewicht zuschreibt. Vieles aber deutet darauf hin, dass im fünften und sechsten Jahrhundert in der Zeit der «Stammaim» sich in Babylonien mit der Entstehung rabbinischer Akademien eine neue Lernkultur entwickelte. Das Studium der Thora wurde intensiver, in grösserem Kreis und dialektischer betrieben. Die Lust auf die Thora wurde grenzenlos. Die möglichen Nebenwirkungen waren eine stärkere Entfremdung von der Familie, ein gelegentlich elitäres Denken und heftige innerakademische Dispute.
Jeffrey L. Rubenstein: The Culture of the Babylonian Talmud. The Johns Hopkins University Press, Baltimore/London 2003.
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Bemerkung:
Irgendwie sieht man sich an Jesus und seine Anhänger erinnert. Jesus verlangte lt. Überlieferung das Verlassen der Familie. Es erinnert an Paulus, der meinte, es sei in Anbetracht anstehender Notzeit und zweitem Kommen Jesu besser unverheiratet zu sein. Es erinnert an später zölibatär lebende sogenannte Christen und an die welche die Bibel als ihr Leben bezeichnen. Es war offensichtlich immer mit einem gewissen elitären Denken verbunden. Auch heftiger Disput ist im Christentum nicht unbekannt. Es hat mit inzwischen ca. 900 christlichen Gruppierungen (andere schon ausgestorben) zu wesentlich mehr Spaltung geführt, wie im Judentum.
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