Von Fieberschüben erholt, bin ich tatsächlich zur Bestattung gekommen. Ich hatte Zweifel, dass ich es schaffe. Ich zog, dank Ausleihen von Herrenbekleidung, nicht fein gemacht, aber Hauptsache in Schwarz, los. So kurzfristig war nichts Besseres zu besorgen. Ohne die schwarze Kluft wäre ich schwer aus dem Rahmen gefallen. Anderes war kleineres Übel. Die Hosenbeine wurden mit Gummi hochgezogen und die vielen Knöpfe am Hosenschlitz wurden nicht alle geschlossen. Bevor man die alle auf hat, hätte leicht ein Malheur passieren können.
Die Bestattungsmesse, in der Kirche (scheußlich grauer Betonkasten, aus den 60er Jahren), die ich seit Jugendtagen nicht mehr von Innen sah, war in etwa wie vorgedacht. Bis auf Verwandte waren kaum andere da. Aber die Verwandten erschienen nahezu vollständig. Immer wieder erstaunlich, dass man zu Beerdigungsfeiern Zeit findet. Der letzte noch lebende Bruder der Mutter war bspw. in 50 Jahren ein einziges Mal bei ihr zu Besuch. Manch anderer war noch nie da.
Der Pfarrer erwähnte kurz, dass der Verstorbene nach seiner Ausbildung in die Stadt zog, weil er zu wenig für Familiengründung verdiente, 40 Jahre in einer Firma war, 50 Jahre dort lebte, sich gut mit Handwerklichem selbst beschäftigen konnte, ein guter Vater und Ehemann war. Der größte Teil richtig, war das Alles. Den guten Vater kann ich, mit meinem Erleben, nicht bestätigen. Und was den Ehemann angeht, hat die Mutter, meines Wissens, mir gegenüber nie verlauten lassen, das er gut war. Sie hat viel gelitten, weil er tagelang beleidigt schweigen konnte. Das hat sie oft erzählt. Aber gut fand sie bestimmt, dass er sein Einkommen immer an sie abgab, sie dann Taschengeld an ihn ausgab. Ansonsten war für ihn wichtig, dass das Essen pünktlich, auf die Minute, auf dem Tisch stand. Geschah dies nicht, konnten Schüsseln an die Wand fliegen. Das sah dann auch mal sauerkrautig aus. Nicht das er hauswirtschaftlich unbegabt gewesen wäre, aber bei, lt. seinen Äußerungen, "drei Weibern" im Haus, erwartete er zu Solchem eine Bedienung von hinten bis vorne, wusste einen Pascha herauszukehren. Alle paar Jahre zeigt er auch mal, dass er es besser konnte, wie alle Weiber. Dann wurde Cremekuchen gebacken, Schürze genäht, der Abstellraum geschrubbt. Was die Häufigkeit angeht, soll sich in Manchem etwas geändert haben, wie die Kinder aus dem Haus waren.
Zurück zur Predigt. Der Pfarrer baute diese auf eine der letzten Fragen des Verstorbenen an die Mutter auf: "Wo wird es hingehen?" Der Pfarrer sprach von den vorbereiteten Wohnungen, Weiterleben. (Das Thema himmliche Wohnungen erscheint mir eine sehr materielle Ausrichtung.) Ich habe keine Vorstellung, kann es so jedenfalls nicht glauben.
Mit der Kirchengymnastik "sitzen, stehen, knien", in der richtigen Reihenfolge, hatten so ziemlich alle Gäste Probleme. Obwohl nahezu alles katholisch, hatte man scheinbar keine Beziehung mehr dazu. Teilweise äußerten die Verwandten auch, dass sie keinen Draht zur Kirche haben. So war ich dann nicht allein damit. Wäre peinlich gewesen, wenn ich allein hilflos rumgeturnt wäre. Zu den Liedern suchte nicht nur ich vergeblich einen Anschlag der Seitenzahl. Küster und Pfarrer sangen mehr oder weniger allein.
Endlich das letzte Lied im Gesangbuch gefunden, erinnerte ich die Melodie noch. Aber der Text passte nicht zu meiner Glaubensauffassung, weil Anbetung eines Menschen, der nicht mehr unter uns ist. Zur Anrufung des aktuell Verstorbenen hat der Pfarrer auch aufgerufen. Ich dachte, nach katholischem Kirchenrecht sei das frühestens mit Seligsprechung möglich. Aber für Angehörige gelten dann scheinbar Ausnahmen. Man lernt nicht aus. Die Messe hat mich im Übrigen nicht berührt. Ich verstehe nicht, wie Menschen das etwas geben kann.
Am Grab überrollten Gefühle. Aber nicht weil ich geistig in dem Sarg einen guten Vater sah.
Vielleicht ging es Mutter, Schwester und Neffe anders. Sicher ist, dass sie schon allein auf Grund dessen, dass sie in einem Haus wohnen, intensivere Beziehung hatten. Für den Neffen gilt es nicht mehr. Er ist bald nach dem er die Schule verlassen hat, mit 16 J., erst mal zu einer 42 jährigen Freundin gezogen, hat danach meist Sozialhilfe bezogen, dauernd irgendwo Schulden gemacht und für ein knappes Jahr landete er auch mal in Haft, dann in Obdachlosenunterkünften. Ich weiß, dass der Opa ihm oft zusteckte. Er mag sich mindestens äußerlich im Enkel wiedererkannt haben. Bei Oma war seitens des Neffen wohl kaum etwas zu holen. Diese hatte von Anbeginn seines Lebens offensichtlich nichts für ihn übrig. Meine Schwester und Sohn sind auch alles andere wie Harmonie.
Ich sah ein paar Verwandte, die ich noch nicht kannte, u. a. einen Cousen, der nun bereits um die 55 Jahre ist und auch meinen Großneffen das erste mal. Während dem Kaffee saß ich im engsten Familienkreis, wobei insbesondere die Schwester mich schnitt. Anlass: Ich hatte die Erwartung des Vaters (oder auch der Mutter) nicht erfüllt. Das hat sie mir beigebracht. Ich habe geschwiegen. Ausgerechnet auf einer Bestattung gräbt man keine Leichen aus. Davon abgesehen wurde schon früher deutlich, dass sie sich an Vieles nicht erinnert oder nicht erinnern will. Aber völlig unwissend ist sie auch nicht.
Ausnahme zu Verwandten, am Tisch, war die jüngste Tochter Regina, der Erstvermieter. Dort verbrachte ich meine ersten sechs Lebensjahre. Die Wohnung war erbärmlich klein, mit massiver Schräge, winzigen Fenstern, die der Verstorbene auch noch verdunkelte, mit einem Rahmen, der mit schwarzer Pappe ausgelegt war. Das tat er wegen seiner häufigen Nachtschicht, damit er am Tag schlafen konnte. Ich erinnere viele Wachstunden in dieser Dunkelheit, in denen ich meine Pappbilderbücher knabberte. Die Wohnung der Vermieter, im Erdgeschoss, war vergleichsweise groß, hell, freundlich. Ich war dort spürbar gut gelitten. Deshalb war das damals ein Lichtblick für mich, wenn ich dort sein durfte. Ich wurde von der Vermieterin auch manches mal vor einer Tracht Prügel gerettet, weil sie heimlich meine verschmutzte Wäsche gewaschen und gefönt hat. die dann am Abend, wenn Mutter von der Arbeit zurück kam, wieder trocken war. Wenn ich damals menschliche Engel erlebte, dann war es dort.
Regina, 5 Jahre älter, hat mit mir gespielt, mich gerne verwahrt, wie sie jetzt noch zu berichten wusste. Sie verhalf gelegentlich dazu, dass ich mal, abgesehen von Kindertagesstätte, vor die Türe kam. Die Kindertagesstätte mochte ich nicht, weil mich die Erzieherin mit Wort und Tat quälte. In meinem 6ten Lebensjahr zogen wir dort weg, weil ein Haus gekauft wurde.
1961
Regina schenkte mir eine Puppe zum Abschied, die ich nach ihr benannte. Ich sah Regina dann bis zur Bestattung des Verstorbenen nie wieder. Selten hörte ich auf Umweg Mutter noch etwas von ihr. Kein Mädchen, dass mit Puppen spielte, sondern sich eher mit Lego, Mikroskop, etc. befasste, wurde die bezeichnete Puppe damals für mich Alles, soweit es psychische Entlastung brachte. Die Puppe hörte in meiner Phantasie zu. Irgendwann hatte die Schwester der ohnehin nicht besonders hübschen Babypuppe ein Auge ausgestochen und sie sah sehr leidend aus. Aber das tat ihrer Funktion keinen Abbruch. Grausam war hingegen, wenn die Mutter, in Bestrafungsaktionen, diese Puppe wegnahm. Dann fühlte ich mich völlig verlassen. Es war mehr, wie irgendeine Puppe für mich. Für mich ein Ersatzmensch, wusste die Mutter offensichtlich, wie weh sie damit tat. Weder Hilfe, noch Abgrenzung oder zur Wehr setzen, war möglich. Im neuen Umfeld gab es keine so warmherzige Nachbarschaft. Entweder hatte der Verstorbene oder der kinderlose Nachbar Nachtschicht. Folglich musste man, am Tag, nahezu immer im hellhörigen Reihenhaus, Marke Billigbau, schleichen. Ansonsten gab es Ärger. Wenn ich Kontakte hatte, war es nicht recht, wurde es bestraft, soweit man davon erfahren hat. Das es raus kam, dafür sorgte immer eine Kollegin der Mutter. Blöde Petze!!! Zur Ablehnung genügte anderer Dialekt und/ oder schulische Ehrenrunden der Schulfreundinnen. Die Kurzschuljahre hatten viele nicht verkraftet, so das Ehrenrunden fast die Regel waren. Später genügten auch, das eine Freundin ältere Brüder hatte. Zu dem wohnte sie ein wenig weiter weg. Es war so auch noch eine kaum befahrene Straße zu überqueren. Das war verboten. Die Gefahren Drinnen interessierten nicht. Dummerweise gab es in dem Radius in dem ich mich bewegen durfte, nichts anderes.
Die Person Regina wurde nicht vergessen, verblasste aber in meiner Erinnerung, während die Puppe Regina bis ungefähr 12te Lj neben mir im Bett liegen blieb, soweit sie nicht von Mutter versteckt war.
Ich saß fast während gesamter Zeit, am 21.09.06, nach Bestattung, mit Regina zusammen. Dabei empfand ich eine große Seelenverwandtschaft während dem Gespräch mit ihr. Wir sprachen über damals, Gott und Welt. So wurde Licht spürbar. Sie konnte sich u. a. auch jetzt noch mit daran freuen, was sie mir damals, mit ihrer Puppe (einem Teil ihrer selbst) gegeben hat. Das hatte sie ja seinerzeit nicht mehr erfahren.
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